Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.
Ingmar Bergmann
Weg! So weit wie möglich.
Das Flugzeug steigt Meter für Meter in die Höhe und mit jedem Höhenmeter wird mein Körper schwerer, ich fliege weiter und weiter weg von dem Stress der letzten Wochen und Monate. Weg von den unzähligen Reiseterminen, die mein Job erforderte, den sich wiederholenden Besprechungen, der Kündigung der gerade eingearbeiteten Kollegin, der nochmaligen Suche nach Mitarbeitern, den Datenauswertungen und nicht enden wollenden Präsentationserstellungen. Rastlosigkeit, Unzufriedenheit, und natürlich unglücklich verliebt. Das ist vorbei! Vergangenheit!
Jetzt ist Freisein dran! Glücklichsein! Hier im Flugzeug, über den Wolken, fällt alles ab, so dass ich einschlafe.
Zwischenstopp
Zwischenstopp in Istanbul. Ein kurzer Aufenthalt und ich werde herausfinden, ob ich in der Türkei stecken bleibe oder bis nach Tansania fliege. Ich suche mir einen Sitzplatz am Abflug-Gate. Mir bleibt eine Stunde, bis das Boarden und die finale Kontrolle beginnen. Eine lange Stunde, 60 lange Minuten bis ich Gewissheit habe.
Ich könnte jetzt von Tansania träumen, von tropischen Temperaturen, weißem Standstrand und türkisblauem Wasser. Von wilden Tieren und dem höchsten Berg Afrikas – wenn mich nicht die Frage quälen würde, ob ich hier festgehalten werde, weil ich kein Visum für Tansania habe. Ich nutze die lange Stunde, um mich selbst verrückt zu machen.
Gut, dass ich jetzt noch nicht weiß, wie es meiner späteren Münchner Reisebekanntschaft ergangen ist: Er musste direkt nach der Ankunft am Flughafen in Südamerika zurück nach Deutschland fliegen, weil sein von Wasser aufgequollener Pass von den Einreisebehörden nicht akzeptiert wurde – obwohl der Pass längst trocken war und von den europäischen Behörden abgenickt wurde. Er wird zurück nach Europa geschickt, bevor er seine Reise überhaupt beginnen kann. Ein neuer Pass und drei Langstreckenflüge innerhalb von zwei Tagen später kann er endlich den südamerikanischen Boden betreten.
Airportfashion
Für Ablenkung sorgen die Menschen um mich herum. Mir gegenüber sitzt ein Paar, das aussieht, als würde es direkt über dem Kilimandscharo abgeworfen werden: Funktionshose, Funktionshütchen, kariertes-Wanderhemdchen, Trekkingstiefel, Trekking-Rucksack. Alles in Tarn- Safari- und Trekkingfarben.
Weiter weg steht eine Gruppe von Mädels, die zusammen verreisen. Bei deren Anblick werde ich für einen Moment sentimental, und neidisch: Keiner meiner Freunde wollte mit mir mitkommen.
Das stimmt natürlich nicht ganz. Vielen hätte die Reise sicher gefallen – aber keiner hat sich fürs Reisen entschieden. Nur mein Julian reist nach Tansania, zu meinem Reiseziel, an denselben Ort wie ich – allerdings zeitverschoben. Das ist das Timing, was ich mit ihm habe. Wir suchen unabhängig von einander immer wieder dieselben Reiseziele aus und sind doch nicht gleichzeitig dort.
My old friend fear
Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ich in drei Wochen Jasmin und Marlena treffen werde, die ich von meiner Praktikumszeit in Indien kenne. Es ist ein Trost, aber nur ein schwacher.
Gerade jetzt und hier wäre es schön, jemanden an meiner Seite zu haben, auf dem Weg in dieses unbekannte Land, von dem ich nicht weiß, wie es ist, aber das mit jeder Minute unheimlicher und gefährlicher wirkt.
Schräg gegenüber sitzen ein paar Schwarzafrikaner, teilweise tragen sie Businesskleidung, teilweise bunte traditionelle afrikanische Kleidung. Mir rutscht das Herz, langsam aber sicher, erst in die Magengegend, dann zielgerichtet in die Knie. Da ist sie also, die Angst. My old friend fear. Da ist das Gefühl mit der fragenden Selbstanklage: Was habe ich mir bloß bei dieser Reise gedacht?
Sie ist nicht das erste Mal meine Mitreisende. Und ich weiß, dass sie nicht lang dabei sein wird. Aber deswegen fühlt sie sich nicht weniger unheimlich an.
Warum Afrika?
Warum habe ich ausgerechnet Afrika gewählt? Warum noch mal Tansania? Ich weiß es natürlich ganz genau. Es musste ein exotisches Land sein, komplett anders als das, was ich bisher gesehen habe. Anders als das geliebte Zentralamerika, das mir langweilig erscheint, weil ich überzeugt war schon alles gesehen zu haben und nichts Neues mehr erleben würde – was natürlich totaler Quatsch ist. Nach Asien wollte ich nicht – nicht mein Lieblingskontinent. Australien – das mache ich, wenn ich alt bin. Der arabische Raum – leider zu frauenunfreundlich. Und Freiheit – ohne Kleidungsvorschriften und beschränkende Zwänge – ist wichtig. Was blieb war Afrika. Afrika – das große unbekannte. Zebras, Elefanten, Löwen, Malariamücken. Und jetzt auch Angst.
Werde ich mich sicher fühlen?
Wie wird Daressalam sein?
Was mache ich die ersten Tage?
Traue ich mich auf die Straße zu gehen? Abends auszugehen?
Lerne ich andere Backpacker kennen? Oder bin ich allein?
Vorausgesetzt natürlich, ich komme überhaupt bis dahin.
Immerhin habe ich alle Sicherheitsmaßnahmen für die Neuankunft ergriffen. Ich habe das Hostel vorab gebucht und ich lasse mich vom Flughafen abholen.
Und trotzdem fühlt sich hier und jetzt mein Magen schwer an und dass nur, weil ich die Afrikaner in der traditionellen Kleidung sehe und sie bedrohlich finde.
Die neue Angst hat für den Moment den Vorteil, dass ich nicht an die Visumssituation denke. Positiver Krankheitsgewinn. Ist doch auch was.
So oder so beginnt die Sicherheitskontrolle. Und ehe ich mich versehe, sitze ich im Flugzeug nach Daressalam. Wenige Stunden trennen mich von der Ankunft in Ostafrika. Und hoffentlich auch der Einreise in Tansania.
Mehr zu: Angst auf Reisen und Strategien wie du den ersten Kulturschock unterwegs besiegst, habe ich in dir hier verlinkt.
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Die vorhergehenden Kapitel verlinke ich dir hier:
Kapitel 1: Einleitung: 9 Monate Weltreise
Kapitel 2: Abreisetag: Muss ich hier bleiben?
Kapitel 3: Hast du gerade gelesen : )
Kapitel 4: Ankunft in Tansania: Wenn Mission 1 an Tag 1 scheitert.
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